Anstaltsalltag

Im 19. Jahrhundert entstand die Psychiatrie als medizinisches Fach. Spezielle Heil- und Pflegeanstalten wurden gebaut, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen geholfen werden sollte. Ruhe und Erholung war ein zentraler Behandlungsansatz. Daher lagen die meisten dieser Einrichtungen auf dem Land. Die therapeutisch begründete Isolation machte es vielen Verwandten schwer, ihre kranken Angehörigen zu besuchen. Auch die Patienten konnten oft nur wenig am Leben außerhalb der Anstalt teilhaben.

Der Anstaltsalltag war streng reglementiert, durchorganisiert und von Befehl und Gehorsam bestimmt. Der ärztliche Direktor sollte der unumstrittene Patriarch der Einrichtung sein. Ihm fiel die Entscheidungsgewalt über die Behandlung, Entlassung und den Besuch von Patienten zu. Er kontrollierte auch ihre Post und durfte Briefe einbehalten.

Viele Anstalten waren bald nach Eröffnung überfüllt. Dort herrschten schlechte hygienische Bedingungen. Pflegesatzkürzungen, Personalabbau und Mangelversorgung trafen vor allem die Patienten, an denen die Psychiater wenig Interesse hatten: Menschen, deren Behandlung aussichtslos und deren Arbeitsleistung »wertlos« erschien. Auch daher lösten Mittelkürzungen für psychiatrische Patienten in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wenig Widerspruch aus. Menschen, die in den Anstalten ursprünglich Hilfe erwarten konnten, waren dieser Entwicklung meist schutzlos ausgeliefert.

Bild: Vorführung eines an »Schizophrenie« erkrankten Patienten durch den Direktor der Wittenauer Heilstätten in Berlin, Gustav Adolf Waetzoldt, 1936
Vorführung eines an »Schizophrenie« erkrankten Patienten durch den Direktor der Wittenauer Heilstätten in Berlin, Gustav Adolf Waetzoldt, 1936
© Verein totgeschwiegen, Berlin, Bildarchiv des Instituts für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin